30 Jahre Rietvögl

Sonderbeilage im Südkurier vom 5. Februar 1988

Runder Geburtstag für die Rietvögel

Dort, wo die Stadtmauer am höchsten und die Wehrtürme am gewaltigsten in den Himmel ragen, dort sind die Häuser der Stadt Villingen am kleinsten. Doch diese Enge mag vielleicht der Grund dafür sein, daß die alte Stadt sich ihren Charakter dort am längsten erhalten hat. Gemeint ist jene Mischung aus Bürgertum, Bauern und Handwerkern, die sich stets – und dies in der Tradition der mittelalterlichen Stadt – bewußt waren, daß sie nur gemeinsam und miteinander bestehen können. Dies schuf ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das in anderen Stadtquartieren wohl viel früher verlorenging. Kurz gesagt, das Riet bewahrte sich am längsten seinen idyllischen, fast dörflichen Charakter. Ein solcher Ort muß eigentlich zwangsläufig irgendwann auch eine gewisse Eigenständigkeit hervorbringen. Sie wurde um so deutlicher, je mehr sich die Bürgerschaft der Stadt wandelte. Das Riet blieb lange Zeit das, was früher die ganze Stadt war, nämlich eine engverflochtene, urbane Gesellschaft.

Auch während der Fasnacht hatte diese Entwicklung ihren Niederschlag gefunden. Närrisch war man selbstverständlich zwischen Zinsergasse und Franziskaner, und nicht umsonst hat die Narrozunft beim Romäusturm ihr Domizil, und die Katzenmusik bewahrt im Turm ihre Symbolfigur das Jahr über auf. Vor dreißig Jahren entstand im Riet allerdings etwas Neues, das es in Villingen bis dahin nicht gab. Im Riet geht alles sehr familiär zu, und so wurden die tollsten Ideen in den verschiedenen Wohnzimmern ausgeheckt. Eine davon war, daß man eigentlich auch eine eigene Fasnacht feiern könnte. Rietbekannte Persönlichkeiten fanden sich dort zusammen, so wie der Moser Bernhard, der Armbruster Otto, genannt das Stampferle, der Hupfer Hermann und die Ummenhofers. Es ist heute sicher nicht mehr festzustellen, wer damals was zum Gedanken der Rietfasnet beisteuerte, jedenfalls zogen Bernhard Moser und das Stampferle mit einer großen Schelle durchs Riet und forderten die Nachbarn und Anwohner auf, künftig die Wäsche an den tollen herauszuhängen und doch ein wenig zu kommen« und Fasnet zu feiern. (vif)

Die Kahlköpfe aus dem Riet

Vor 25 Jahren zu später Stunde eine verrückte Idee geboren

Es war einmal, es ist inzwischen 25 Jahre her, da wurde im Riet einmal wieder in fröhlichem Kreis zünftig gebechert. Zu später Stunde kam dann einer der Mannen am Tisch auf die Idee, daß eigentlich jeder rechte Ma einmal im Leben einen Glatzkopf tragen müsse. Gesagt, getan, die Runde beschloß, sich auf der Stelle kahlscheren zu lassen und hatte natürlich auch in Friseurmeister Otto Armbruster, genannt das Stampferle, gleich einen. der diese Idee in die Tat umsetzte. Nur einer, und der war allgemein als Futzi bekannt, kam davon, denn seine Frau saß mit am Tisch, und als die von der verrückten Idee hörte, schnappte sie sich ihren Ehegespons und ab ging’s nach Hause.
Die Glatzköpfe genossen natürlich eine gewisse Berühmtheit im Riet, und das wurmte besagten Futzi sehr, denn er fühlte sich aus der Gemeinschaft der Kahlköpfigen ausgeschlossen. An einem Abend hieß es dann aus einer der Haustüren heraus: »Alle Glatzköpfe dürfen zurri Vespern kommen.« Wieder mußte Futzi mit seiner langen Tolle draußen bleiben, doch diesmal war das Maß voll und die Angst vor der Angetrauten’ überwunden. Futzi flitzte zum Stampferle und erschien kurz darauf auch mit einer frischfrisierten »Platte« zum Vespern. Doch irgendwann nahte die Stunde des Aufbruchs und für unseren Helden der Moment der Wahrheit, denn er mußte seinem Eheweib mit kahlem Kopf gegenübertreten. Er versuchte, diesen Zeitpunkt noch etwas hinauszuschiebel'”! und borgte sich einen Hut aus, an den dann auch noch ein paar Haarfransen geklebt wurden.
Tatsächlich, im ersten Augenblick schien alles gutzugehen, doch irgendwann fiel der getäuschten Ehefrau auf, daß ihr Futzi sonst keinen Hut trägt. Sie ahnte Böses. Die Verkleidung fiel, und für den kahlen Ehemann gab es ein paar Tage Stubenarrest, bevor er dann wieder auf die Gaß’ durfte. (vif.)

Aus mittelalterlicher Tradition wuchs die Fasnet

Stadtquartier mit idyllischem Charakter fand zu eigenständiger Narretei – Am Anfang waren Drehorgel und Moritaten

Was dem Riet eigentlich schon vor Jahrhunderten in die Wiege gelegt wurde – enge Gassen und~ Winkel, das Zusammengehörigkeitsgefühl und eine gewisse Eigenständigkeit der Menschen im urbanen Gesamtbereich – das münzten die Bürger dieses Stadtquartiers vor 30 Jahren bewußt auch auf eine eigene Fasnet um. Drei Jahrzehnte bedeuten zwar noch keine Tradition. doch was die Rietbewobner aus »ihrer Fasnet« gemacht haben, hatte seinen Ursprung sicher schon in der mittela1terlichen Tradition. So gesehen kann man die Rieffasnet mit Fug und Recht als ein Stück der hislorischen Villinger Fasnet bezeichnen.

Vor 30 Jahren ließen sich die Rietbewohner nicht lange bitten, als die Fasnetsidee geboren wurde. Da wurden Keller ausgeräumt und Garagen leergemacht, im Wohnzimmer wurden die Teppiche aufgerollt, und so entstand eine ganze Reihe von Besenwirtschaften über die tollen Tage hinweg, in denen geschwätzt, gelacht, geschunkelt und getanzt wird. Da gibt es Einladungen in die Wohnstuben, kurz, es wird im Riet an allen Ecken und Enden über Fasnet gefeiert, ohne daß es ein eigentliches Programm gibt. Für Musik und Stimmung sorgen einige Originale, die mit der Drehorgel von Haus zu Haus ziehen, um ihre Moritaten zu verkünden und Geschichtle zu erzählen; da gibt es andere, die ein Instrument spielen und sich einfach hinsetzen und Musik machen. In den ersten Jahren schloß sich diese junge Fasnachtsvereinigung etwas der Katzennusik an, wohl deshalb, weil ja schon der Kater im Riet alljährlich eingefangen wird, wen die Fasnacht anbricht. Damals, so erinnert sich der heutige Rietbürgermeister Erwin Ummenhofer, wurde der Kater ja noch nicht im Turm gefangengehalten. Man hat ihn einfach hinter einem Misthaufen, die es damals im Riet noch gab, aufgelesen und schon ging’s los auf die Fasnet.

Anfang der sechziger Jahre, die Rietbewohner fanden immer mehr Spaß an ihrer eigenen Fasnet, wählte man sich einen eigenen Bürgermoaschter, dies war Johannes I. aus der Familie der Grießhaber.

Die Besenwirtschaften waren längst zu klein geworden, wenn sich die Rieteinwohner treffen wotlten. So entstand 1961 der erste Rietobed im Gasthaus »Ott«. Auch hier war das Programm noch sehr locker und lebte von der lnitiative Einzelner und von der Improvisation. Jeder konnte hier vortragen, was er zusammengereimt und gedichtet hatte, und die, die besonders gut ankamen, wurden beklatscht. während andere sich auch gefallen lassen mußten. daß ihnen aus dem Publikum mal die Meinung gesagt wurde.

1958, um nur einige Daten zu nennen. baute man im Riet den ersten eigenen Fasnachtswagen. und um jene Zei entstand auch die Figur des Rietvogels. Über lange .Jahre hinweg gab es aber nur einen einzigen Vertreter dieser Art mit Vogelscheme und Federkleid- Erst später hatte diese Gruppe dann ihren Zulauf. In den folgenden Fasnachtsumzügen steuerte das Riet mal ein prächtiges Schiff, -mal einen großen schwarzen Vogel bei, bis dann schließlich die Rietkutsche konstruiert wurde. Dies ist ein Gefährt, das seine Besonderheiten hat. So kann man beispielsweise im Kühler während des Umzugs ganz wunderbar Würstchen heiß machen und dies wird von den Rievögeln auch kräftig genutzt. Die Spritzdüsen der Scheibenwaschanlagen sind so kräftig. daß sie jeden Neugierigen auf Abstand halten.

1970 gründete man im Riet die heute noch stadtbekannte Damenkapelle. Anfangs waren es ausgerechnet zwei Männer, die als Vater dieser origen Kapelle auftraten. Heute zählt das Ensemble 24 Musikantinnen,die ihre lnstrumeme auf fürchterliche Weise beherrschen und tiemmungslos drauflosspielen.

Die Geschichte der Rietfasnet geht weiter mit dem Rücktritt von Bürgermoschter Johannes I. Er ärgerte sich 1972 über die Einführung der Einbahnregelung im Riet so sehr, daß er einfach dort nicht mehr regieren mochte. So wählte man halt kurzerhand den »Stumpeschriener« Hermann Hupfer zum neuen Rietoberhaupt. Er wurde 1977 von Erwin Ummenhofer abgelöst, der heute noch der Rietschultes ist.

Gefeiert wurde wacker in all diesen Jahren, und wenn auch schon längst nicht mehr alle
Rietvögel von einst im Riet wohnen, so finden sie sich doch alle Jahre zur Fasnetszeit, Zugvögeln gleich im Schatten des Romäusturmes ein und feiern dort ihre Fasnet.

Der Rietobed hat sich inzwischen zum Rietball gemausert und findet nicht mehr im Ott, sondern seit Jahren mit wachsendem Publikum im Münsterzentrum statt. Neueste Errungenschaft der Rietvögel ist das Rietvogelnest in Ummenhofers früherer Werkstatt, wo es sich auch in der fasnachtslosen Zeit gut hocken läßt und wo auch heute noch, wenn die Richtigen zusammenkommen manch toller Spaß ausgeheckt wird. (vif.)